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Anders als bei den Maronen, die der Marronimann während der Wintermonate in der Stadt anbietet, reifen bei den Kastanien im Puschlav (GR) nicht nur eine grosse, sondern zwei bis drei kleine Früchte pro stacheligem Fruchtbecher aus.Fotos: Alexandra von Ascheraden

Zeitschriften | Verband & PolitikLesezeit 2 min.

Im Puschlav (GR) haben sich die Menschen wieder auf die traditionellen Kastanien

Im Puschlav (GR) haben sich die Menschen wieder auf die traditionellen Kastanienselven, welche während langer Zeit vernachlässigt worden sind, zurückbesonnen. Ihre Wiederherstellung ist aufwendig. Ein Rundgang mit einem Besitzer einer Selve.

Alexandra von Ascheraden* | Bei strahlender Herbstsonne wartet Piero Pola am Bahnhof Campocologno (GR). Mit zügigen Schritten geht es anschliessend steil bergauf in Richtung seiner Kastanienselve am Waldrand. Die Menschen im Puschlav haben sich über Jahrhunderte die wertvollen ebenen Talflächen für den Ackerbau, vor allem für Tabakplantagen, und ihre Siedlungen vorbehalten und die Kastanien an die Berghänge gepflanzt. Die Marroni machten einst einen bedeutenden Teil der Nahrung im Puschlav aus. Piero Pola rechnet vor: «Vor einem Jahrhundert war es noch völlig normal, dass ein Sechspersonenhaushalt zwischen 600 und 900 Kilogramm Kastanien pro Jahr verbrauchte, also 100 bis 150 Kilogramm pro Kopf.» 100 Gramm der kohlehydratreichen Nussfrüchte liefern knapp 200 Kalorien, dazu Kalium, Phosphor, Magnesium, Kalzium und zahlreiche Vitamine. Kein Wunder, waren sie einst so begehrt. 

Heute sind viele Kastanienselven aufgegeben. Sie verwahrlosen. Die im Puschlav traditionell angebauten Sorten liefern kleine, aber süsse und schmackhafte Marroni. Nicht wie jene, die der Marronimann in der Stadt anbietet. Das sind andere, um ein Mehrfaches grössere Sorten, bei denen nur eine Marroni pro stacheligem Fruchtbecher ausreift und nicht gleich drei wie hier im Puschlav.

Bäume einzeln im Grundbuch eingetragen

So bleibt es dem Engagement von Menschen wie Piero Pola überlassen, der in seiner Selve die Tradition aufrechterhält. «Von den 28 Edelkastanienbäumen in meiner Selve ist jeder einzelne im Grundbuch eingetragen. Der Boden selbst verbleibt im Puschlav jeweils im Besitz der Gemeinde. In meinem Fall ist das die Comune di Brusio.» Dieses System wurde vor 150  Jahren eingeführt. Die Gemeinde war damals in Geldnot. Kurzerhand hat sie um 1870 herum das Recht versteigert, Kastanienpflanzungen auf bestimmten Parzellen vorzunehmen. Sie behielt aber das Eigentum am Boden selbst.

Nach dem raschen Aufstieg zu seiner Selve zeigt Piero Pola auf seinem Mobiltelefon ein Foto eines knallroten, zweisprachigen Schildes, das er bald am dem Dorf am nächsten gelegenen Baum der Selve aufhängen wird. Darauf steht: Die Kastanien sind in Privatbesitz. Es ist strengstens verboten, Kastanien aufzusammeln. Seine Selve liegt an einem beliebten Spazierweg und ist traditionell nicht eingezäunt. Mit dem Schild will Piero Pola Spaziergängern verdeutlichen, dass Sammeln in diesem Fall Diebstahl ist. Schliesslich wollen die Eigentümer der mit viel Aufwand bewirtschafteten Selven ihre Früchte auch ernten. Denn in jenen Selven, deren Eigentümer sich nicht mehr kümmern, gibt es nach wenigen Jahren nichts mehr aufzusammeln.

Beim Besuch Anfang Oktober hängt das Schild noch nicht. Wegen des kalten Frühjahrs beginnt die Ernte ungewöhnlich spät. Die Marroniigel, die bereits am Boden liegen, sind ausnahmslos leuchtend grün und rundum geschlossen. «Die hat der Wind heruntergeholt. Wenn sie weder braun verfärbt noch geöffnet sind, sind die Früchte darin unreif. Sie reifen auch nicht nach.»

Mäuerchen und Hügel markieren Grenzen

Die Besitzgrenzen der Selven muss man lesen können. Es sind Details wie kleine Hügel im Gelände oder Mäuerchen. Jeder Eigentümer weiss auch ohne offizielle Grenzmarkierungen, welcher Baum ihm gehört und welcher dem Nachbarn. «Die Mäuerchen sind nicht willkürlich errichtet worden, sondern im Gelände verteilt. Unsere Vorfahren haben sie dort errichtet, wo gern grössere Mengen der Kastanienigel zu den Nachbarn herunterrollten.» 

Heute haben die Kastanienselven ihre einstige Bedeutung eingebüsst. In Campocologno verbleiben noch etwa ein Dutzend Eigentümer, die ihre Selven auch bewirtschaften. «Wir sind alle zwischen 50 und über 70 Jahre alt. Es bräuchte dringend einen Generationswechsel, und das wird schwierig», so Piero Pola. Seine Vorfahren, die die Bäume hier so sachkundig gepflanzt haben, hätten sich das nicht vorstellen können. Seine Bäume sind zwischen 80 und 150 Jahre alt. Viele davon wurden in den 1940er-Jahren aufgepfropft. Das war damals ein Experiment, um die Qualität zu verbessern. «Für einen Kastanienbaum ist das noch kein Alter. Er wächst während 80 bis 90 Jahren und liefert auch nach 500 Jahren noch ein gesundes Produkt. Es gibt in Europa sogar Exemplare, die über 1000 Jahre alt sind.»

Über Jahrhunderte hinweg waren Marroni eine wichtige Nahrungsgrundlage. Vor der breiten Einführung von Mais und Kartoffeln aus dem neu entdeckten Amerika waren sie ein bedeutendes, über mehrere Monate lagerfähiges Grundnahrungsmittel. «Die Römer haben sie zusammen mit den Weinreben in ganz Europa, von Portugal bis zur Türkei, verbreitet. Vor allem auf der Alpensüdseite. Es gab aber auch Versuche, sie an der Alpennordseite zu kultivieren, sogar bis nach Südengland.» Auf der Schweizer Alpennordseite waren es vor allem die Regionen um die Alpenrandseen. Dazu kamen die Föhntäler im Wallis, im Chablais und im Rheintal.

Nicht nur wegen der Früchte waren Kastanienkulturen wichtig. «Das tanninhaltige Holz war für Pfosten im Rebbau gefragt und zur Fassherstellung. Und ganz nebenbei wuchsen unter den Bäumen auch noch schmackhafte Pilze, sodass man seine Ziegen darunter weiden lassen konnte», erklärt Piero Pola.

Idealer Pflanzabstand 

Der Anbau wurde im Mittelalter immer weiter verbessert. Die Menschen fanden heraus, welche Pflanzabstände ideal sind, welche Bodentypen sich am besten eignen, und sie zogen den Anbau bis zur ökologischen Grenze hinauf. Edelkastanien gedeihen auf einer Höhe von 300 bis 700 Metern. Ideal sind 400 bis 600 Meter. Campocologno liegt auf 550 Metern. «In den Selven sollten die Bäume im Abstand von zehn Metern gepflanzt werden. Dann kommen etwa 100 Bäume auf einen Hektar», so Piero Pola. 

Mit der Industrialisierung und der kontinuierlichen Verbesserung der Lebensqualität sank die Bedeutung der Kastanienselven. Sie wurden kaum noch gepflegt: «Im Puschlav waren sie bald in einer desolaten Situation.» Immerhin gab es noch einige. Im Tessin hatte man schon um 1750 immer mehr davon abgeholzt. «Dort gab es bis Mitte des 20. Jahrhunderts zwei Tanninfabriken, die grosse Mengen Holz verarbeiteten. Das tanninhaltige Holz eignete sich gut zum Waschen von Pelzen. Und in Norditalien setzte die aufkommende Industrie wegen seines Brennwertes auf das Kastanienholz.» So war zu Beginn des 19. Jahrhunderts von ursprünglich 8800 Hektaren Tessiner Selven nur noch ein Viertel übriggeblieben. Zumindest die Struktur der einstigen Selven kann man auch heute noch erahnen. Auf der Alpennordseite sind so gut wie alle Selven verschwunden.

Alte lokale Tradition wiederbeleben

Erst in den 1980er-Jahren erstarkte das Bewusstsein, dass jahrhundertealte, lokale Traditionen und Kulturlandschaften im Begriff waren, verloren zu gehen. Der Bund startete schliesslich erste Programme zur Rettung der Selven. Zwar hatten die Menschen im Puschlav, anders als im Tessin, eine Vielzahl Edelkastanienbäume einfach sich selbst überlassen, statt sie abzuholzen. Der Unterhalt der Bäume ist jedoch aufwendig, und die Eigentümer müssen sie regelmässig pflegen, da die Erntemengen sonst rasch abnehmen. «Ich gehe mehrmals im Jahr mit dem Fadenmäher durchs Gelände, während meine Vorfahren einfach Ziegen unter den Bäumen weiden liessen. Später im Jahr muss ich die Blätter aufnehmen, damit keine Schädlinge oder Pilze darin überwintern. Früher durften wir sie einfach im Wald verbrennen. Heute ist das verboten, und ich muss sie zur Entsorgung fahren. Daher warte ich damit bis in den Februar, wenn der Wind einiges verblasen hat», erklärt Piero Pola. Auch Wurzelausschläge und zu tief liegende Äste müsse er entfernen. Und dann gibt es ja noch die diversen Krankheiten, die den Edelkastanien zusetzen; vor allem der Edelkastanienrindenkrebs.

Starker Rückschnitt

Wer wie Piero Pola im Puschlav eine Selve besass, konnte sich also im Rahmen des Interreg-Projekts1) «Castanetum» beim Bund Unterstützung holen. Kranke Bäume wurden stark zurückgeschnitten, sodass sie neu austrieben. Zwischen 2003 und 2006 flossen etwa 200 000 Euro in dieses Projekt, von denen die Schweiz selbst nur knapp 13 000 aufbrachte. Italien brauchte den Grossteil der Mittel auf. Das Ziel war nicht nur, die Selven, sondern auch die traditionelle Kulturlandschaft wiederherzustellen. Die steilen Wiesen mit den nach Art einer Hochstammkultur gesetzten Edelkastanienbäumen wurden entbuscht. So wurden im Puschlav 21 Hektar mit 1600 Bäumen wiederhergestellt. Viele dieser Bäume litten jedoch unter Edelkastanienrindenkrebs. Diese mussten stark beschnitten werden, erholten sich zum Teil aber wieder. Bis heute dürfen die Selvenbesitzer befallene Äste alle acht Jahre durch Gemeindearbeiter gegen ein symbolisches Entgelt entnehmen lassen. Auch in Piero Polas Selve ragen an mehreren Bäumen kahle Äste in den Herbsthimmel empor, die Bäume scheinen aber dank der Pflegezyklen zurechtzukommen.

Piero Pola muss heute andere Probleme lösen als seine Vorfahren. «In ganz trockenen Jahren müssen wir mittlerweile bewässern. Früher haben wir das nur bei jungen Bäumen gemacht. Längst müssen wir in langen Trockenphasen auch ältere Pflanzen mit Wasser versorgen.» Edelkastanien mögen mildes Klima. Die Blätter bilden sich erst ab Ende Mai, wenn die Spätfröste vorbei sind.

Schädlinge wandern global, und zwar schnell

Auch die aufgrund der Globalisierung schnell wandernden Schädlinge sind ein Thema. Die Kastaniengallwespe Dryocosmus kuriphilus gelangte aus China nach Europa und wurde im benachbarten Italien erstmals 2002 nachgewiesen. 2012 tauchte sie im Puschlav auf. Sie legt ihre Eier in die Knospen. Die Larve, die sich darin während 30 Tagen entwickelt, überdauert bis zum Frühling und bildet dann grosse Gallen an Stielansätzen der Blätter und am Hauptnerv. Die Blätter bleiben kleiner und wachsen häufig gekrümmt. «Erkennt man den Befall zu spät, sind nur noch zehn Prozent der Produktion nutzbar.» Bis 2010 habe er noch 200 Kilogramm pro Jahr ernten können, «jetzt bleiben mir noch 50 bis 60». In Italien hat sich im Kampf gegen die Gallwespe der Einsatz der Schlupfwespe Torymus sinensis bewährt. In der Schweiz ist deren Freisetzung aber noch nicht erlaubt. Dazu meint Piero Pola nur trocken: «Zum Glück hat sich die Schlupfwespe nicht für die nahe Landesgrenze interessiert. Sie hilft uns auch ohne Erlaubnis bereitwillig.» 

Über diese und viele weitere Themen lesen Sie in der neuen Ausgabe von «WALD und HOLZ».

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